Warenkorb:
leer

Rezension

Seele und Sorge, Dezember 2025

Die Autorin stellt ihr Buch vor: Seit der »Wende«, der friedlichen Revolution von 1989, schreibe ich regelmäßig Tagebuch. Für mich begann damals, nach einigen Jahren diakonischer Arbeit, mein Aufbruch in die kirchliche Sozialpolitik auf Landes- und später Bundesebene. In diesen Jahrzehnten hatte ich die Chance, unser vielschichtiges Sozialsystem gründlich kennenzulernen. Immer häufiger stellte sich jedoch das Gefühl ein, dass das System erstarrt und nicht mehr kritisch reflektiert, sondern allenfalls durch neue gesetzliche Regelungen ergänzt wird. Mit dem Start der neuen Regierung im Frühjahr dieses Jahres verbanden viele die Hoffnung, dass sich die Erstarrung lösen lässt, dass die Dinge in Bewegung kommen. Stattdessen erleben wir neue Blockaden – nur im Blick auf Migration und Arbeitslosigkeit scheint sich etwas zu bewegen. Zeigt der Umgang mit den Schwächsten, wohin es geht?
Grundlage für mein neues Buch »Der alternde Sozialstaat, die schrumpfende Kirche und ich« sind die Tagebuchaufzeichnungen zwischen Advent 2021 und Pfingsten 2024 – einer Phase, in der es, Stichwort Corona, um die Tragkraft unseres Gesundheitssystems ging. Das Tagebuch zeichnet nach, wie Familien überlastet wurden, zumal solche mit Pflegebedürftigen und kleinen Kindern, auch weil Politik die Bedeutung sozialer Infrastruktur unterschätzte. Der Backlash, der in dieser Zeit begann, betrifft in erster Linie Frauen, aber auch Ältere, die nun vor allem als Belastung für Renten- und Pflegeversicherung gesehen werden. Damit werden enorme Chancen vertan – nicht zuletzt was den gesellschaftlichen Beitrag der Boomer:innen und die Bedeutung des freiwilligen Engagements angeht. Um die aktuellen Debatten sichtbar zu machen, wurden im Buch Erfahrungen aus dem letzten Jahr hinzugefügt.
Die genannten Fragen berühren auch die Entwicklung der Kirche, deren gesellschaftliche Potenziale in meinen Augen noch lange nicht ausgeschöpft sind. Ja, die Kirche schrumpft. Sie muss den Umgang mit schwindenden Einnahmen, zu teuer werdenden Immobilien und Fachkräftemangel managen. Zugleich aber entstehen neue Chancen und Kooperationen im Gemeinwesen. In den Nachbarschaftsräumen rücken Kirche und Diakonie zusammen, Ehrenamtliche werden persönlich und strukturell gestärkt, Kirchen werden neu genutzt, überall entstehen Teams aus Pfarrpersonen, Gemeindepädagog*innen und anderen kirchlichen oder sozialen Berufsgruppen. Aufbruch wird spürbar: bei Angeboten für Kinder und Familien oder in den Sorgenden Gemeinschaften rund um die Pflege – in Arbeitsfeldern, die nach sozialpolitischen Veränderungen geradezu schreien.
Die Transformation von Kirche und Sozialstaat erlebe ich auch auf dem Hintergrund eigener Veränderungen, denn das Tagebuch handelt von den Jahren rund um meinen siebzigsten Geburtstag. Wie die Altersbilder sich wandeln, wie wir gesellschaftlich umgehen mit Alter und Verwundbarkeit, aber auch mit Veränderungsprozessen und Krisen wie der Flut an der Ahr oder dem Krieg in der Ukraine, das geht mich auch ganz persönlich an. Welch große Rolle es spielt, in den politischen Debatten die persönlichen Erfahrungen mitzudenken – ohne jedoch alles an den eigenen Interessen zu messen –, das ist an den Gesprächen zu spüren, die häufig nach meinen Vorträgen oder Workshops zu diesem Thema entstehen.
Wie es weitergeht mit Sozialstaat und Kirche, ist offen. Nur im Streit werden die Möglichkeiten erkennbar. So ist dieses Buch auch kein sozialpolitisches Programm, keine neue Vision von Kirche. Stattdessen gehe ich einzelnen Fragen nach, setze verschiedene Aspekte zusammen wie in einem Puzzle. Aber vielleicht ist das die Art, wie wir mitten im Umbruch über die nächsten Schritte nachdenken können. Meine Hoffnung ist, dass diese ebenso politisch-gesellschaftlichen wie persönlichen Aufzeichnungen helfen, anstehende Entscheidungen zugleich reflektierter und couragierter zu treffen – für politisch Aktive, für Engagierte in den Gemeinden, für Frauen und Männer, die sich auf die dritte Lebensphase vorbereiten und mehr als andere ahnen, wie Freiheit und Verbundenheit zusammengehören.
Das Buch beginnt im Advent. Und ja, genau aus seiner Perspektive des Rückblicks heraus ist es ein Buch des Aufbruchs!

Cornelia Coenen-Marx

Mehr im Netz:

Rezensierter Titel:

Kein Umschlag vorhanden: Der alternde Sozialstaat, die schrumpfende Kirche und ich

als Buch kaufen

DE: 27,00 €
AT: 27,80 €

Der alternde Sozialstaat, die schrumpfende Kirche und ich

Klarheit und Mut, wenn Umbruch Alltag wird
Coenen-Marx, Cornelia/Klein, Ansgar